18 September 2005

Muammar al Gaddafi findet Geschmack am Business - Abkehr vom Sozialismus ohne freiheitlichen Unterbau

Libyen betreibt in Worten und Taten die Abkehr von der Staatswirtschaft. Zu politischen Reformen, welche die überragende Stellung des Revolutionsführers Muammar el Gaddafi beeinträchtigen könnten, ist es aber nicht bereit.

Den zahllosen jungen Männern und gruppenweise auftretenden Mädchen, die an diesem Abend den Märtyrer-Platz vor der Zitadelle in Tripolis bevölkern, könnte nichts gleichgültiger sein als die Konterfeis des Revolutionsführers Gaddafi, der, die Hände zur gratulierenden Geste erhoben, von den Wänden der umliegenden Gebäude herunter lächelt. Noch weniger interessieren die jungen Leute die Losungen aus Gaddafis Grünem Buch, die von Spruchbändern an Abschrankungen und Mauern verkündet werden. Man ist hier, um sich zu sehen und um gesehen zu werden - und um den arabischen Musikgruppen zu lauschen, die aus Anlass des 36. Jahrestags der Machtergreifung Gaddafis bis spät in die Nacht hinein auf dem Märtyrer-Platz aufspielen. Auf den für Fernsehkameras errichteten Plattformen drängen sich Halbwüchsige in dichten Trauben. Sie geben sich als verzückte Popfans, wenn sich ein Fotoapparat auf sie richtet.
Noch beherrschen die Riesenporträts des stets hoffnungsvoll in die Zukunft blickenden Revolutionsführers das optische Erscheinungsbild von Tripolis. Aber da und dort tauchen Reklameschilder auf, die für die westlichen Produkte werben, die in Läden und Supermärkten in Massen angeboten werden. Die Hallen des internationalen Flughafens von Tripolis zieren Plakate einer Firma, die Werbeflächen vermittelt. Noch preist sie mangels Kunden bloss ihre eigenen Dienste an. Anderswo treibt die Marktwirtschaft bereits buntere Blüten. In unmittelbarerer Nähe der Altstadt entstehen gleich mehrere Hotels, eins nach dem andern, fast eine ganze Strassenzeile säumend. Der Fischmarkt an der Scharia Sidi Darghut am Meer ist zum Stelldichein für Feinschmecker geworden. Aus dem verwirrend reichhaltigen Angebot an Fischen wählt der Marktbesucher seine Favoriten aus, die dann gleich ausgenommen, gereinigt, gebraten und zum Verzehr aufgetischt werden. Noch halten sich die Händler und Wirte mit Investitionen ins Erscheinungsbild ihrer eher Buden als Restaurants gleichenden Lokale zurück, aber Nachfrage und Konkurrenz dürften bald für Verbesserungen sorgen. Die kleinen Läden in den engen Gässchen des Suks in der Nähe der Zitadelle quellen über von Waren. Einheimische berichten, dass sich das Angebot in den letzten Jahren deutlich verbessert habe.

In seinem Grünen Buch von 1978 hatte Muammar el Gaddafi die Lohnarbeit noch als untrügliches Anzeichen von Ausbeutung verdammt. Arbeiter hätten "Partner, nicht Lohnarbeiter" zu sein, befand der vom ägyptischen Staatschef Nasser stark beeinflusste Revolutionsführer. Die Anerkennung des Profitmotivs bedeute die Anerkennung von Ausbeutung. Folglich wies Gaddafi die Arbeiterschaft an, sich zu Kollektiven zusammenzuschliessen und die Betriebe selber zu führen. "Volkskomitees" übernahmen auch den Detailhandel. Die Zahlung von Miete wurde schlichtweg verboten, die Mieter wurden zu Eigentümern erklärt und zur Zahlung eines "Hypothekarzinses" an den Staat verpflichtet.
All diese dirigistischen Massnahmen zur Eliminierung des Privatsektors brachten aber das zur Jamahiriya (Staat der Massen) erklärte Libyen auf dem Weg zur ersehnten wirtschaftlichen Autarkie nicht voran. Im Gegenteil, sie vertieften die Abhängigkeit vom Ausland. Die Einnahmen aus der Erdölindustrie des Landes erlaubten zwar, vor allem zu Zeiten hoher Ölpreise, problemlos die Finanzierung aller benötigten Einfuhren. Aber die Leistungsfähigkeit des staatlich-öffentlichen Sektors blieb gering, eine wirkliche Diversifizierung weg vom Ölsektor kam trotz immensen Investitionen nicht zustande. Der Zwang zur Verwaltung der Betriebe durch Arbeiterkomitees stand effektivem Management im Weg. Der Jamahiriya fiel es immer schwerer, alle Libyer als umsorgte und gut versorgte "Partner" in staatlichen Betrieben zu beschäftigen.

In den 90er Jahren leitete Gaddafi die Abkehr vom Sozialismus ein. So schuf 1997 das "Gesetz Nummer 5" die Voraussetzungen dafür, dass Ausländer nun auch ausserhalb des Erdölsektors, auf den sie bisher beschränkt gewesen waren, investieren konnten. So richtig in Fahrt kam der Privatisierungszug aber erst 2003 mit der Ernennung des Geschäftsmanns Shukri Ghanim zum Generalsekretär des Allgemeinen Volkskomitees, das heisst zum Regierungschef. Ghanem gab Hunderte von Staatsbetrieben zur Privatisierung frei, vereinheitlichte die komplizierte und dem Schwarzmarkt Tor und Tür öffnende mehrschichtige Währung, senkte die Zölle und schuf neue steuerliche Anreize für einheimische wie ausländische Investoren. In seiner jüngsten jährlichen Einschätzung der libyschen Wirtschaftspolitik hat der Internationale Währungsfonds (IWF) die libyschen Anstrengungen, die Wirtschaft zu liberalisieren und den Anschluss an den Weltmarkt zu suchen, begrüsst, gleichzeitig aber auch darauf hingewiesen, dass die Reformanstrengungen immer noch Ad-hoc-Charakter hätten und zu wenig durchschaubar seien. Nach wie vor stecke die libysche Wirtschaft weitgehend in einem Korsett staatlicher Vorgaben. Es müsse noch viel getan werden, bis Marktimpulse die immer noch stark von der Erdölproduktion abhängige Wirtschaft durchtränkten.

Mit der Aufbruchstimmung in der Geschäftswelt kontrastieren Verkrustung und Versteinerung im Bereich der Politik und der bürgerlichen Grundfreiheiten. Dies zeigt sich nicht nur in der Fortdauer des Personenkults um Gaddafi und in der Weigerung des Regimes, das Grüne Buch und dessen Slogans endgültig aus dem Verkehr zu ziehen. Libysche Gesprächspartner weichen politischen Diskussionen aus wie der Teufel dem Weihwasser, entweder indem sie schlicht davor warnen, den Namen Gaddafi in der Öffentlichkeit auch nur zu erwähnen, oder indem sie sich betont als politische Eunuchen geben, denen die Politik gestohlen bleiben kann.

Selbst von der Wüstenoase Ghadames aus ist das Internet frei zugänglich, aber wer an öffentlichen Debatten über das politische Leben in der Jamahiriya interessiert ist, muss auf Websites zugreifen, deren Server im Ausland stehen. Der Journalist Abd ar-Raziq al-Mansuri, der es gewagt hatte, für eine in Grossbritannien domizilierte Website kritische Artikel über Libyen zu schreiben, wurde Anfang des Jahres in Tobruk verhaftet und monatelang festgehalten. Kontakte zur Aussenwelt blieben ihm verwehrt. Laut den Reportern ohne Grenzen ist im Mai 2005 ein weiterer für eine Exilpublikation tätiger Journalist, Daif al- Ghazal, Opfer des libyschen Staatsterrors geworden. Sein grob entstellter, Folterspuren aufweisender Leichnam wurde im Juni 2005 in Bengasi aufgefunden. Al-Ghazal hatte die auf Gaddafi und dessen Grünes Buch eingeschworenen Revolutionskomitees, die sich als ideologische Hüter der Basis-Volkskongresse (lokale Parlamente) gebärden, als korrupt dargestellt.

So sehr das libysche Regime zurzeit darum bemüht ist, die Wirtschaft zu liberalisieren und gegenüber ausländischen Interessen zu öffnen, so wenig ist es bereit, auf Gaddafis Vorrangstellung in der Politik, die ihm aus der Kontrolle über die Sicherheitsdienste erwächst, zu verzichten. Gaddafi möchte von den Vorteilen, welche die Integration Libyens in die Weltwirtschaft verspricht, profitieren, aber dabei keinerlei Abstriche an seiner politischen Sonderstellung vornehmen. Für den Ausgang der Wirtschaftsreformen verheisst diese Doppelstrategie wenig Gutes. Gaddafi kann auf dem von ihm befohlenen Marsch in die Marktwirtschaft jederzeit eine Pause einlegen - oder gar den Rückweg antreten.

Unternehmerisch veranlagte Libyer investieren vorzugsweise in den Tourismus. Bereits tummeln sich auf diesem lukrativen Tätigkeitsfeld über 200 Unternehmen, die sich bis auf zwei Ausnahmen alle in privater Hand befinden. Sie führen vor allem Safaris durch die Wüste durch, aber auch Reisen zu den antiken Stätten am Mittelmeer, etwa Leptis Magna und Sabratha. Der Staat unterstützt die Branche, indem er Reisenden, die über keinerlei Kontaktpersonen oder Einladungsschreiben aus Libyen verfügen, die Vermittlerdienste von libyschen Reiseagenturen vorschreibt. Um den Tourismus anzukurbeln, gestattet er neuerdings auch den Erwerb des Visums bei der Einreise; die mühselige Beschaffung der Einreisegenehmigung bei einer der libyschen diplomatischen Vertretungen im Ausland entfällt.

Der libysche Staat versucht aber auch, vom Tourismus zu profitieren, indem er ausländischen Reisegruppen, die mehr als sechs Personen umfassen, die Begleitung durch einen Polizisten aufzwingt. Das sei, versichern libysche Reiseveranstalter, keineswegs als Überwachungs- und Bespitzelungsmassnahme gedacht, sondern diene der Arbeitsbeschaffung. Angesichts der fehlenden Sprachkenntnisse der (unbewaffneten) Bewacher kommt dieser Erklärung einige Plausibilität zu.

Quelle: NZZ Neue Zürcher Zeitung

Keine Kommentare: